Ob Moralbegriffe darüber hinaus eine biologische Grundlage haben - etwa daß Schonung von Familienangehörigen oder Nachbarn genetisch bzw. stammesgeschichtlich als Forderung angelegt ist, weil dies dem Überleben nützt - wollen wir in diesem Zusammenhang unerörtert lassen, da in jedem Fall die Ausformung solcher eventuell eingeborenen Grundmuster höchst unterschiedlich verläuft. Es gibt eine Fülle von Beispielen, die belegen, daß zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen ganz und gar verschiedene, ja, gegensätzliche Dinge als gut und böse oder richtig und falsch verstanden werden. Man braucht nur an die unzähligen Spielarten der Sexualmoral zu denken.
Andrerseits schafft sich jede Gesellschaft ein Gerüst von Moralbegriffen und entwickelt diese in Anpassung an den Zeitverlauf weiter. Sind erst einmal solche Gerüste oder Kernideen vorhanden, unterliegen sie einem inneren Zwang: nämlich der eigenen Logik und der beständigen Überprüfung auf ihre Tauglichkeit, die sich an der Lebenswirklichkeit mißt.
Jede Ethik baut auf Prämissen auf, das heißt auf Voraussetzungen, die allgemeine Anerkennung gefunden haben, und aus denen Verhaltensregeln für den Einzelfall abgeleitet werden können.
Diese Prämissen werden ständig weitervermittelt, durch Erziehung, Vorleben, Propagieren und hundertfältige Wege der Befestigung. Dabei findet ein laufender "Fortschritt" statt, das heißt eine Wechselwirkung zwischen den akzeptierten Grundbegriffen und der ununterbrochen weiterwuchernden Realität des Lebens. Häufig kommt es in diesem Vorgang zu Überschneidungen, weil die einen an früheren Ausformungen der Prämissen, die sie einmal gelernt oder verinnerlicht haben, festhalten und andere aus der Prämisse neue Folgerungen ziehen. Im politischen Bereich haben sich dafür Begriffe wie "reaktionär", "konservativ", "liberal" oder "progressiv" eingebürgert. In jedem Fall aber wird auf die gemeinsame Basis anerkannter Wertsetzungen einer Gesellschaft Bezug genommen.
Auch die Tierrechtsethik, die wir vertreten, ist nicht aus dem Nichts entstanden oder wie eine "Ersatzreligion" dem bestehenden Wertsystem künstlich aufgepropft. Sie wird logisch aus den Prämissen heraus entwickelt, die heute jeder demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung zugrundeliegen. Die moralische Idee, Tieren ebenso elementare Rechte zuzugestehen wie allen Menschen, ist eine Fortführung der Idee der Menschenrechte, die ja ihrerseits auch erst aus der Prämisse "Alle Menschen haben gleichen Wert" entwickelt und erkämpft wurde, und die, wie jeder nachlesen kann, keineswegs immer selbstverständlich war.
Um moralisch fortschrittlich denken zu können, muß man zunächst "modal" denken können, das heißt, die Fähigkeit haben, sich Alternativen zu bestehenden Zuständen, die als ungenügend empfunden werden, überhaupt vorzustellen. Ferner gilt es zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit zu unterscheiden, denn ein Einsatz gegen Notwendiges, Unabänderliches, führt in die Utopie, ein vorschnelles Akzeptieren von angeblichen Notwendigkeiten aber zur Stagnation und, wie im Fall der Tiere, zu unendlichem Unglück. So gibt es wenig Sinn, gegen die Unabänderlichkeit des Sterbens anzurennen, wohl aber gegen die nur scheinbare "Notwendigkeit" des Tötens.
Eng damit verbunden ist das Erkennen von Zufälligkeiten. Es unterliegt zum Beispiel dem Gesetz des Zufalls, daß wir im reichen Mitteleuropa der Gegenwart geboren sind und nicht als Paria in den Slums von Kalkutta oder daß eine Frau hier und heute von Freiheiten Gebrauch machen kann, die ihr als Leibeigener von Vater und Ehemann früher unvorstellbar gewesen wären. Die Erkenntnis der Tatsache, daß günstige Lebensbedingungen glücklichen Fügungen zu verdanken sind, ist eine Quelle sozialen Gewissens. Das "moralische Gesetz in mir" (Kant) fordert, anderen, die weniger begünstigt sind, beizustehen, ihre Benachteiligung ausgleichen zu helfen oder mindestens nicht zu verstärken. Sich auf die eigenen zufälligen Privilegien etwas einzubilden und die zufällig Unterpriviligierten ihrem Schicksal zu überlassen, ist nach den Prämissen unseres Wertsystems schlicht unmoralisch.
Das relativ Neue an der Tierrechtsethik liegt darin, diesen allgemein anerkannten Grundgedanken auf nicht-menschliche Lebewesen zu erweitern. Dies ist aber wiederrum zwingend nach der immanenten Logik eines anderen moralischen Prinzips, dem der Gerechtigkeit.
Es ist ein fundamentales ethisches Prinzip, schon von Aristoteles formuliert, daß gleiche Fälle gleich behandelt werden müssen. Das Wort "gleich" hat dabei nicht die Bedeutung von "identisch". Lebewesen, die im moralischen Sinn gleich sind, müssen einander nicht exakt gleichen. Die Grundidee ist vielmehr, daß es in allen Wesen, die zur selben Kategorie moralisch Gleicher gehören, gewisse relevante gleiche Merkmale gibt, nach denen sie in diese Kategorie eingeordnet werden müssen. Gleichbehandlung bedeutet, daß jedes Individuum, das zur Kategorie der moralisch Gleichen gehört, gemäß seinen Bedürfnissen gleich behandelt werden sollte. Einige Theoretiker haben diese Art der Gleichheit als Berücksichtigungsgleichheit bezeichnet, das heißt die Interessen aller Mitglieder der Bezugsgesamtheit sind in gleicher Weise zu berücksichtigen.
Mit wachsender Sensibilität für Gerechtigkeit und Fairneß und stärkerer Betonung der Verpflichtung statt gönnerhaften Wohlwollens gegenüber den Machtlosen und Unterdrückten wuchs die Einsicht in die prinzipielle Ungerechtigkeit von Diskriminierung. Vor nicht allzulanger Zeit konnte die Gesellschaft für die Behandlung dieser Menschen kaum mehr bieten als eine gegen Grausamkeit gerichtete Ethik.
Offenbar sind wir uns nicht wirklich darüber bewußt, welchem biologischen Glücksfall wir es zu verdanken haben, als Angehörige der mächtigsten Spezies geboren worden zu sein. Wir sind tief davon überzeugt, daß unsere Macht über andere Spezies eine vom göttlichen oder kosmischen Willen verordnete Notwendigkeit sei. Wir glauben, daß die Überlegenheit unserer Spezies garantiert sei, das heißt, unsere Beziehung zu den anderen Spezies sei genau so, wie sie im Grund sein müßte und deshalb, so kommen wir zu dem moralisch selbstzufriedenen Schluß, mache es keinen Sinn, diese Ethik in Frage zu stellen. Wir verschwenden keinen Gedanken an die theoretische Möglichkeit, daß es auch anders hätte sein können und wir die Erde mit einer Spezies teilen müßten, die noch mächtiger ist als unsere eigene, und die uns ganz selbstverständlich züchten und essen würde oder in medizinischen Experimenten bei uns Herzanfälle auslösen würde. Mit diesem Gedanken wächst die Einsicht, daß sich aus dem glücklichen Umstand, Macht zu besitzen, nicht die moralische Rechtfertigung ergibt, diese Macht uneingeschränkt ausnützen zu können.
Der wichtige Punkt, weshalb wir christliche Dogmen nicht als bindende Grundlage für moralisches Handeln annehmen können, liegt in einer Idee des Rechtsstaats. Es würde den vernünftigen und rechtlichen Grundsatz verletzen, daß in unserer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft Kirche und Staat zu trennen sind. Im Labyrinth alternativer Theologien werden wir entscheidende Kriterien jedenfalls nicht finden können, um daraus eine allgemeingültige Ethik ableiten zu können.
Was die Rechte und Pflichten derjenigen Menschen betrifft, die in diesem Sinne keine Personen sind, läßt sich nicht befriedigend lösen. Prinzipiell muß jede Person damit rechnen, daß sie infolge von Krankheit oder Unfall die Fähigkeiten verliert, die für "Personen" charakteristisch sind. Beispielweise müssen wir mit der fast 50%igen Wahrscheinlichkeit rechnen, im hohen Alter hochgradig dement zu werden. Wenn uns jetzt daran liegt, auch in diesem hypothetischen Fall mit Rücksicht behandelt zu werden, ließe sich für diese Eventualität durch Einführung einer bestimmten Norm vorsorgen. Doch was ist mit kleinen Kindern oder mit Menschen, die bereits schwer geistig behindert auf die Welt kommen, und die die Fähigkeiten einer "Person" nicht haben und nie haben werden? In der gegenseitige Bedingtheit von Rechten und Pflichten läßt sich also letztlich keine Grundlage finden, warum wir allen Menschen elementare Rechte zugestehen.
Näher als die Vertragstheorien ist der heute herrschenden Moral die Konzeption Kants. Kant fordert moralisches Handeln nach Maximen (Grundsätzen), deren Verallgemeinerung man wollen kann: "Handle so, daß die Maxime Deines Willens jederzeit Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung sein könnte!"
Kant leitet Rechte von bestimmten Fähigkeiten ab. Der Mensch sei als vernünftiges Wesen autonom, das nach selbstgegebenen Gesetzen leben kann und sich daher sein Leben als Zweck an sich vorstellt. Als solches besitzt der Mensch "an sich" einen Wert oder eine Würde, und es sind nicht empirische Interessen, sondern die Achtung vor diesem Wert der Vernunft, die das moralische Handeln begründet.
Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung lohnt es sich, einen Blick auf Artikel 1 der Menschenrechte zu werfen: "Alle menschlichen Wesen sind frei geboren und gleich an Würde und Rechten. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen."
Offen bleibt bei dieser Prämisse, warum es eigentlich ausgerechnet die Vernunft ist, deretwegen man Wesen moralisch behandeln sollte (auch wenn es nicht überrascht, daß die Intellektuellen, die bei der Formulierung der Menschenrechte maßgeblich mitgewirkt haben, zugunsten des Intellektuellen so voreingenommen sind)?
Es ist zumindest nicht zwingend, daß die Vernunft etwas absolut Gutes und Achtenswertes und daß sie der einzige Kandidat für diesen Status ist.
Zum anderen wirft es angesichts der graduellen Unterschiede von Vernunft unter den menschlichen Individuen die Frage auf, wie sich dann trotz dieser Unterschiede zu dem Ergebnis kommen läßt, daß jede Person ganz auf die gleiche Weise unter die moralischen Imperative fällt?
Nach dieser Logik müßten Wesen, die der "Vernunft" nicht teilhaftig sind, aus der moralischen Berücksichtigung herausfallen. Und eben das wird gegen die Tiere ins Feld geführt. Es beträfe aber auch konsequenterweise alle menschlichen Wesen, denen es an "Vernunft" mangelt, also etwa Schwachsinnige, verwirrte Greise, Dumme oder sogar kleine Kinder. Wir kämen also wieder zu dem Ergebnis, daß eine Moralbegründung, die an die intellektuellen Fähigkeiten anknüpft, eine große Zahl von Menschen von der Respektierung ihrer Interessen ausschließt.
(Ganz abgesehen davon, daß die "Vernunft" auch bei geistig gesunden erwachsenen, ja sogar Hochgebildeten, eine höchst fragwürdige Gabe ist, wenn man nur bedenkt, in welches Unheil die Folgen scheinbar vernünftiger Ideen und Handlungen die Welt gestürzt haben, wenn man bedenkt, wie beliebig Intelligenz benutzt werden kann. Auch Leute wie Goebbels oder Napoleon gelten als hochintelligent, betrachteten ihre Ideen und Handlungen als vernünftig.)
Wenn wir also die Vertragstheorie oder die Kantsche Vernunfttheorie als moralischen Anknüpfungspunkt konsistent anwenden würden, hätte das Folgen, die keiner vertritt, da sie dem modernen Verständnis von Gerechtigkeit und damit dem moralischen Verbot von Diskriminierung aufgrund zufälliger und unverschuldeter Eigenschaften zuwiderlaufen. Der absolute Wertcharakter der Vernunft erweist sich als willkürlich, als metaphysische Annahme.
Auch die von denjenigen Vertretern dieser Theorien, die ihre Unvollständigkeit erkennen, angebotenen Hilfskonstruktion ist nicht schlüssig, nämlich die Ausdehnung des Vernunftsprinzips auf die Unvernünftigen.
Es wird argumentiert, daß auch unvernünftige Menschen Anteil an der grundsätzlichen, "normalen" Fähigkeit der Gattung Mensch zu vernünftigem Denken und Handeln haben. Es gehe nicht um die individuellen Fähigkeiten und Leistungen, sondern um die Teilhabe an der besonderen Gattung Mensch, vernünftig sein zu können.
Damit landen wir aber wieder bei dem Zufall der Geburt, der als Begründung für moralisch relevante Rechte geradezu absurd ist. Rechte aus der Zugehörigkeit zu einer Spezies abzuleiten, ist nach den Maßstäben der Gerechtigkeit ebenso widersinnig wie die Ableitung aus der Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Geschlecht, einer Religion oder einer Haarfarbe.
So erweist sich die menschliche Vernunft als Basis für die Berücksichtigung elementarer Lebensrechte des Individuums als Zirkelschluß: Wir gewähren dem Menschen Rechte, weil er vernünftig ist, und zwar auch dann, wenn er es nicht ist, weil er ein Mensch ist.
Doch auch innerhalb der Gattung Mensch wird die Behauptung von der absoluten Heiligkeit des Lebens äußerst beliebig gehandhabt. Offenbar ist nicht die Heiligkeit das Kriterium, wenn menschliches Leben einem doch noch "höheren" Wert geopfert wird, etwa für "gerechte" Kriege. Oder wie begründet sich die unterschiedliche Bewertung verschiedener Straftaten gegen das Leben? Wie die in vielen zivilisierten Ländern noch zulässige Todesstrafe? Wie die Straflosigkeit des Selbstmordversuchs oder der Beihilfe zum Selbstmord? Wie können wir auch nur den Autoverkehr zulassen, der mit absoluter Sicherheit jedes Jahr Tausende von Leben fordert? Wie können wir angesichts der Heiligkeit jedes Einzellebens Extremsportarten erlauben, polizeiliche Todesschüsse oder sogar tödliche Notwehr gegen einen Autodiebstahl? Wie auch nur die permanente Selbstgefährdung durch absurde Ernährungs- und Lebensgewohnheiten?
Das Interesse am Leben und Weiterleben und am möglichst angenehmen, schmerz- und leidfreien Leben mit möglichst hohem Schutz vor äußeren Eingriffen erweist sich als der einzige sinnvolle, widerspruchsfreie Ansatzpunkt für eine rational zu begründende Moral. Im philosophischen Diskurs wird hier von einer derivativen Begründung gesprochen, das heißt von einer Ableitung moralischer Maßstäbe aus der Faktizität. Das blanke Interesse am Leben als natürliche Voraussetzung aller mehr oder weniger bewußten Lebewesen ist es, was wir schüzen, dem wir zu seiner größtmöglichen Durchsetzung und Entfaltung verhelfen wollen, und das seine Grenzen nur an den ebenso elementaren Lebensinteressen aller anderen findet. Diese an dem eingeborenen Interesse jeden individuellen Lebens an sich selbst anknüpfende Wertsetzung ist die einzig rationale Grundlage für eine Ethik, die Gerechtigkeit verspricht, jenseits aller hochgestochenen, egoistischen, selbstverliebten, logisch widerspruchsvollen und anmaßenden Moralkonzepte.
Nicht bei allem, was man zerstören kann, ist davon auszugehen, daß es ein eigenes Interesse daran hat, nicht vernichtet zu werden. Eine Gemälde von van Gogh kann man zerschneiden, und das wäre ein schreckliches Unrecht an dem Wert, den große Kunstwerke an sich darstellen, und in hohem Maße auch gegen die Interessen von Menschen gerichtet, die sich an diesem Kunstwerk erfreuen. Doch eigene Interessen hat das Gemälde nicht, ein Akt von Vandalismus ist nicht unfair ihm gegenüber. Es genügt auch nicht, daß etwas lebendig ist. Es ist nicht gegen das Interesse einer Mohrrübe, geerntet und gegessen zu werden. Es macht keinen Sinn anzunehmen, daß etwas eigene Interessen hat (was nicht gleichzusetzen ist damit, daß es unwichtig wäre, was damit passiert), wenn nicht ein gewisses geistiges und psychisches Leben hinzukommt, das über den reinen Stoffwechsel hinausgeht.
Lebewesen, die Schmerz empfinden können, bei denen also ein adäquates neuronales Substrat für empfundenen Schmerz - ein Nervensystem - existiert, haben natürlich ein erwiesenes Interesse daran, ihn zu vermeiden. Gewiß ist es ein Unrecht, einem empfindungsfähigen Wesen Schmerz zuzufügen. Natürlich sind viele Handlungen, die einem Menschen keine physischen Schmerzen zufügen, dennoch gegen seine Interessen. Viele Interessen entstehen aufgrund anderer, komplexerer Fähigkeiten: sich zu freuen oder zu ärgern, Hoffnungen und Erwartungen zu hegen, Enttäuschungen und Frustration zu erleben. Hier handelt es sich jedoch um eine große Skala von Bedürfnissen, die im Einzelfall abzuwägen sind und die die Inhalte des zu schützenden Lebens ausmachen.
Logischer erscheint der Denkansatz, daß sich ein Tötungsverbot aus dem Vorliegen eines Todesbewußtseins ableiten läßt und dem daraus resultierenden Interesse, angesichts der mehr oder weniger bewußten Endlichkeit des Lebens dieses ausleben zu wollen.
Das Motiv für diese Anschauung liegt in der empirischen Beobachtung, daß häufig erst durch das Vorliegen eines Spannungsverhältnisses ein Sachverhalt einen Wert erhält. Hinter diesem Ansatz steckt die Idee, daß wir zum Beispiel den Zustand, gesund zu sein erst dann wirklich schätzen können, wenn wir wissen, wie es ist, krank zu sein. Intensives Glück könne nur ein Wesen empfinden, das vom Leiden weiß. Das Bewußtsein um die Endlichkeit des Lebens mache den Reiz des Lebens aus.
So verblüffend dieser Gedanke auf den ersten Blick auch erscheinen mag, er wird kaum unser Lebensinteresse begründen. Im Angesicht des Todes bei einer unheilbaren Krankheit, so betonen es viele Betroffene, leben sie wesentlich bewußter und bestätigen damit indirekt, daß die wenigsten im ständigen Bewußtsein der Endlichkeit des Lebens existieren. Wer gestaltet schon sein Leben mit dem ständigen, oder zumindest regelmäßigen Gedanken an den Tod? Erst, wenn eine lebensbedrohliche Situation auftritt, macht sich das Todesbewußtsein im eigentlichen Sinn bemerkbar, nämlich dadurch, daß nach Auswegen gesucht wird, um der Lebensgefahr zu entgehen.
Was macht jedoch das Leben aus, daß wir es in aller Regel weiterleben wollen? Sokrates rückte die Frage in den Blickpunkt, was denn ein wohlgelebtes Leben ausmache und er kam zu dem Schluß, daß es die Selbsterkenntnis sei. Für Aristoteles war es die Vervollkommnung von Fähigkeiten und Talenten, für katholische Denker die Hingabe an Gott, für Hume die Befriedigung der genuinen Wünsche, für Bentham das Anhäufen von möglichst viel Angenehmen, für Goethe "die Persönlichkeit".
Den Sinn des Lebens kann niemand allgemeinverbindlich erklären. Die Gegenfrage bringt uns auch nicht viel weiter: wann unter welchen Umständen meinen wir, daß es keinen Sinn mehr macht, weiterzuleben? Ein Leben in schlimmster Armut, unter schrecklichen Entbehrungen, mit ständigen Schmerzen, unter gnadenloser Unterdrückung, ein Leben, das nur noch Leiden und keine Momente von Glück und angenehmen Erfahrungen mehr bereithält, wird den meisten von uns so unerträglich erscheinen, daß der Tod nur noch eine Erlösung erscheint. Und trotzdem: Menschen, die in bitterster Armut unter unvorstellbar erbärmlichen Umständen leben müssen und ständig Not am Allerelementarsten leiden, zeigen schon dadurch, daß sie sich nicht umbringen, daß der Wille zum Leben auch unter solchen Bedingungen stärker sein kann.
Es gibt den moralphilosophischen Ansatz, daß Wesen, die Subjekte eines Lebens sind, das heißt, Subjekte, die ein Leben erfahren, das über die Zeit hinweg für sie gut oder schlecht verlaufen kann, diejenigen, die ein individuell erlebtes Wohlergehen haben, die die Fähigkeit besitzen, lustvolle und leidvolle Erfahrung zu machen, die - wie es in der philosophischen Fachterminologie heißt - über Präferenzautonomie verfügen, also über die Fähigkeit, einer Sache oder Handlung vor einer anderen den Vorzug zu geben, auch ein Interesse am Leben haben, ein Interesse, das über den reinem Überlebenstrieb (der in allen Lebewesen, auch in Bakterien und Pflanzen steckt) über die biochemischen Prozesse zur Lebenserhaltung hinausgeht, das auf dem aktiven Part einer Lebensführung beruht, und das wir dann voraussetzen können, wenn durch evidentes Weitermachenwollen das Indiz für ein Weiterlebenwollen vorliegt.
Entscheidungsfähige Menschen sind in diesem Sinne Subjekte eines Lebens, aber auch jene geistig nicht kompetenten Menschen, mit denen wir uns im Vorausgegangenen immer wieder beschäftigt haben, und für die bisherigen Moraltheorien eben keine Basis schaffen konnten, um ihre (berechtigten) Grundrechte zu begründen. Sind Tiere in diesem Sinn Subjekte?
Durch die moderne Verhaltensforschung, die kognitive Ethologie, die mit der Tradition des unhaltbar reduktionistischen Behaviorismus brach, haben wir gerade in den vergangenen Jahren großes und erstaunliches Wissen über die intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten von Tieren angesammelt. Mit dem Ergebnis, daß es offenbar keine exklusiv menschliche Fähigkeit gibt, sondern alle emotionalen und verstandesmäßigen Leistungen - graduell unterschiedlich - auch bei den anderen Tieren vorhanden sind, ebenso, wie die geistigen und gefühlsmäßigen "Leistungen" auch unter menschlichen Individuen variieren. Die Indizien verdichten sich, daß mit dem Vorhandensein einer gewissen Konzentration von Nervensubstrat und damit einem komplexen Zentralnervensystem man nicht nur von einem bewußten Schmerzempfinden ausgehen kann sondern von noch weit komplexeren Fähigkeiten.
Darüber hinaus gibt es keinen Grund zu glauben, daß intellektuell hochentwickelte Wesen qualitativ oder quantitativ stärkere Gefühle haben als intellektuell weniger entwickelte. Jeremy Bentham, der postulierte, alle moralischen Werte ergäben sich aus der Vermehrung oder der Verringerung von Glück, nannte sieben Dimensionen für den Wert von Gefühlen: Intensität, Dauer, Gewißheit, Ausmaß, Folgeträchtigkeit, Reinheit und Nähe. Selbst wenn sich intellektuell höher entwickelte Wesen einer größeren Vielfalt von Gefühlen erfreuen mögen, können diejenigen, die intellektuell weniger entwickelt sind, diesen "Mangel" durch eine größere Intensität, Dauer, Reinheit oder ein größeres Ausmaß kompensieren. Wer an einem Sommertag am Badestrand die intellektuell hochentwickelten Erwachsenen, die Kinder und die Hunde daraufhin beobachtet, wer von ihnen am glücklichsten ist und den Tag am meisten genießt, wird schnell erkennen, was mit dieser Aussage gemeint ist.
Wenn wir die genannten besonderen Fähigkeiten als Grundlage für Interessen nehmen, würden zwar nicht alle Tierarten gleichermaßen unter die Berücksichtigungsgleichheit fallen. Einzeller weisen noch keine Differenzierung auf, sie haben keine Nervenzellen und daher gibt es keinen Grund, bei ihnen Leidensfähigkeit und Schmerzempfinden zu vermuten. Aber auch einige Vielzeller besitzen keine Nervenzellen, so die Schwämme.
Schließlich besitzen einige Tierarten zumindest Nerven- und Sinneszellen, jedoch im einfachsten Fall noch ohne ausgebildetes Nervensystem, so die Hohltiere (Polypen, Quallen) und die niedrigsten Formen der Mollusken (Muscheln).
Nach dem derzeitigen Stand der Physiologie ist die biologische Voraussetzung für ein subjektives Schmerzempfinden eine bestimmte Konzentration eines Nervensystems. Auf der Verhaltensebene muß man davon ausgehen, daß alle Tiere, die auf Reize hin ihr Verhalten ändern können, die anpassungs- und lernfähig sind, subjektive Erfahrungen machen, über ein subjektives Schmerzempfinden verfügen, eine Präferenzautonomie haben. Diese Voraussetzungen werden mit Sicherheit von allen höheren Tieren, wahrscheinlich von allen Wirbeltieren, aber auch von einigen wirbellosen Tieren (z.B. Tintenfische) erfüllt. Wo sich letztlich die Grenze befindet, wo wir von einem "Weitermachenwollen" ausgehen können, wissen wir noch nicht. Die Verhaltensforschung zeigt uns immer wieder neue Dimensionen bisher unterschätzter emotionaler und intellektueller Fähigkeiten der Tiere auf.
Die einzig moralisch starken, rationalen Prämissen, nämlich das Vorhandensein von Interessen, die zu unserer allgemein anerkannten Moral führen, daß alle Menschen ein elementares Recht darauf haben, daß ihnen willentlich keine Schmerzen, Leiden und Schäden zugefügt werden einschließlich des stärksten Schadens, dem Verlust des Lebens, bietet keine gerechte Basis dafür, den Tieren, die diese Interessen teilen, ihre Rechte zu verweigern.
Wenn wir heute generell davon ausgehen, daß alle Menschen ein unbeschränktes Recht auf Leben haben, unabhängig von ihren persönlichen Eigenschaften, von Alter oder Geschlecht oder Volkszugehörigkeit oder gar Sympathiewerten, die man ihnen jeweils entgegenbringt, so ist das die gültige Moral. Bei der Suche nach ihrer Begründung stießen wir aber auf die Erkenntnis, daß diese Moral nicht auf Angehörige der Spezies Mensch begrenzt werden kann. Die einzig logische Begründung für das Menschenrecht auf Leben, nämlich sein Interesse daran, führt im Gegenteil zwingend zu dem Schluß, daß auch andere Lebewesen mit diesem Interesse das Recht auf ihre rechtliche und moralische Anerkennung haben.
Wenn diese rational begründete Ethik heute noch auf irrationale Abwehr stößt und noch weit davon entfernt ist, allgemein akzeptiert zu sein, so liegt doch eine begründete Hoffnung im Blick auf die Geschichte. Immer waren es Minderheiten oder einzelne, die sich festgefahrenen Denkgewohnheiten entgegengestellt und an der Entwicklung moralischer Ideen auch dann weitergearbeitet haben, wenn die Masse der nicht "modal" denkenden ihnen mit äußerstem Widerstand begegnete.
Nur die moralisch Sensiblen haben die Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen aufgedeckt, die sich unter den Vorzeichen falsch begründeter Moralität bis zu angeblich ewigen, unabänderlichen, gottgewollten Einrichtungen entwickeln konnten. Wir sind überzeugt, daß das saubere Denken in Verbindung mit dem moralischen Grundprinzip der Gerechtigkeit die beste Grundlage ist, allen Pseudorationalisierungen der Entrechtung der Tiere den Boden zu entziehen.
Silke Ruthenberg, Sina Walden
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